Umfrage zeigt: Fehlende Toleranz gegenüber anderen Meinungen ist ein Problem

Eine Umfrage der SRG zeigt, dass fast drei Viertel der Schweizerinnen und Schweizer finden, es mangle hierzulande an Toleranz gegenüber anderen Meinungen.

Genau genommen sind es 72 Prozent der Befragten, die die fehlende Toleranz für ein Problem halten. Das geht aus der grossen Umfrage "Wie geht's, Schweiz?" hervor, die das Meinungsforschungsinstitut GFS Bern im Auftrag der SRG im Frühjahr 2023 durchgeführt hat.

An der Umfrage haben über 57'000 Personen teilgenommen. Der gesamte Fragebogen enthielt über 300 Fragen. Aus methodischen Gründen wurden nicht alle diese Fragen von allen 57'000 Befragten beantwortet. 8820 Befragte beantworteten den Themenblock zu bestimmten "Werten" des Zusammenlebens. Hier sind die detaillierten Ergebnisse.

Während auf nationaler Ebene 72 Prozent der Befragten das Gefühl haben, dass ihre Mitbürgerinnen und Mitbürger bei Debatten intolerant gegenüber anderen Standpunkten sind, sind im Tessin 84 Prozent dieser Meinung, also deutlich mehr.

Teilt man die Befragten in zwei Gruppen ein, Vegetarier beziehungsweise Menschen, die ihren Fleischkonsum einschränken, auf der einen Seite und die übrige Bevölkerung auf der anderen, so halten 77 bzw. 76 Prozent der "Fleischverzichter" die fehlende Toleranz für ein Problem, bei der übrigen Bevölkerung aber nur 63 Prozent.

Erwartungsgemäss nehmen die in der Schweiz lebenden Ausländer dieses Problem stärker wahr. 78 Prozent von ihnen finden, dass es in der Schweiz an Toleranz mangelt. Nur 73 Prozent der Personen mit doppelter schweizerischer und ausländischer Staatsbürgerschaft sind dieser Meinung, und nur 71 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer.

Betrachtet man schliesslich die politische Zugehörigkeit, so sind die SVP-Anhänger die einzige Kategorie - unter allen sozioökonomischen oder kulturellen Kategorien, die von GFS Bern erfasst wurden -, in der nicht eine absolute, sondern nur eine relative Mehrheit (48%) die fehlende Toleranz als Problem sieht.

Gesellschaftliche Probleme werden verschwiegen

Der Aussage "In der Schweiz sprechen wir im Allgemeinen nicht über gesellschaftliche Probleme" stimmen 66 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer eher oder ziemlich zu.

Dieser Prozentsatz nimmt mit steigendem Haushaltseinkommen ab - von 75 Prozent zustimmenden Antworten bei denjenigen, die bis zu 3000 Franken verdienen, zu nur noch 58 Prozent bei denjenigen, die über 9000 Franken verdienen. 

Überraschenderweise unterscheidet sich die Westschweiz in dieser Frage deutlich von den anderen Sprachregionen. Nur 44 Prozent sind der Meinung, dass gesellschaftliche Fragen zu oft ignoriert werden. In der italienischen und der deutschen Schweiz hingegen ist eine grosse Mehrheit der Befragten (62% im Tessin bzw. 72% in der Deutschschweiz) der Meinung, dass gesellschaftliche Themen generell nicht diskutiert werden.

Liegt es daran, dass diese Probleme in der französischsprachigen Schweiz besser sichtbar sind oder dass sich die französischsprachige Bevölkerung weniger darum kümmert? Das lässt sich anhand der Rohdaten nicht sagen.

Eine Mehrheit von 63 Prozent der Befragten ist eher oder absolut der Meinung, dass die Freiheit aus Sicherheitsgründen manchmal eingeschränkt werden muss. Ein Drittel der Bevölkerung ist mit solchen Beschränkungen nicht einverstanden. Generell ist es ein Thema, an dem sich die Geister scheiden, vor allem in Bezug auf Sprache und Einkommen.

So ist die italienische Schweiz mit 70 Prozent am ehesten bereit, Einschränkungen der Freiheit zu akzeptieren, um die Sicherheit zu gewährleisten, gefolgt von 64 Prozent in der Deutschschweiz, während in der Romandie mit 55 Prozent die Zustimmung am niedrigsten ist.

Personen mit niedrigeren Gehältern sind weniger bereit, solche Einschränkungen zu akzeptieren als andere. Nur 57 Prozent der Personen, die weniger als 3000 Franken verdienen, befürworten eine Einschränkung ihrer Freiheit aus Sicherheitsgründen. 52 Prozent der Personen, die zwischen 3000 und 5000 Franken verdienen, sind dafür. Die höheren Gehaltsklassen schwanken zwischen 64 und 69 Prozent Zustimmung zu dieser Aussage.

Eine Mehrheit von 59 Prozent der Befragten ist der Meinung, dass sich die meisten Schweizerinnen und Schweizer leicht beleidigt fühlen, während 32 Prozent die gegenteilige Meinung vertreten und 9 Prozent keine Meinung zu dieser Frage haben.

In den verschiedenen Analysekategorien gibt es kaum Abweichungen vom nationalen Durchschnitt, ausser zwischen den Sprachregionen.

In der Deutschschweiz sind die Leute am kritischsten. 64 Prozent finden es "ziemlich" oder "voll und ganz" wahr, dass ihre Mitmenschen zu leicht beleidigt werden. In der italienischen Schweiz finden das 57 Prozent und in der französischsprachigen Schweiz nur 42 Prozent.

Sollen alle sagen können, was sie wollen, auch wenn es andere beleidigt? Eine knappe Mehrheit der Befragten findet Nein (52%), eine starke Minderheit findet Ja (46%).

Die Frage spaltet die Geschlechter deutlich: Frauen sind dagegen (61%), während Männer überwiegend dafür sind (56%).

Auch zwischen den Sprachregionen gehen die Meinungen auseinander: Die Deutschschweiz ist mehrheitlich dagegen (54%), die italienische Schweiz ist gespalten (47% dafür und ebensoviel dagegen und 6% unentschieden), während die französischsprachige Schweiz dafür ist (54%).

Unter Befragten mit Sympathie für die SVP gibt es eine starke Mehrheit für die Meinungsfreiheit, während die Anhänger und Anhängerinnen der anderen Parteien mehrheitlich dagegen sind.

Weniger als ein Drittel (31%) der Befragten vermeidet es häufig, über ihre politischen Ansichten zu sprechen. 68% machen sich keine Gedanken darüber.

Intoleranz gegenüber anderen Meinungen

Haben wir verlernt, miteinander zu reden? 

Selbst für extreme Standpunkte gibt es Gruppen, in denen die eigene Meinung weiter verstärkt werden kann. Social Media scheint solche Echokammern zu kultivieren. Wie kann trotzdem noch ein konstruktiver Diskurs gelingen? Ein Gespräch mit der Autorin Laura de Weck und der Philosophin Romy Jaster.

Der Ton in Debatten wird rauer

Sandro Bucher

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Die Entfernung von Statuen oder Aufrufe zum Boykott von Persönlichkeiten in den sozialen Netzwerken: Die Beispiele, in denen der Begriff der Abschaffung der Kultur verwendet wurde, sind zahlreich und erwecken den Eindruck eines Sammelbegriffs. Die Entschlüsselung dieses Begriffs aus den Vereinigten Staaten.

Der Begriff "Cancel Culture" wurde erstmals von Kritikerinnen und Kritikern bestimmter sozialer Bewegungen verwendet, die deren Auswüchse kritisierten. Darunter auch der ehemalige US-Präsident Donald Trump.

Während der Begriff mit dem Aufkommen der #MeToo-Bewegung in den sozialen Netzwerken weithin bekannt geworden ist, gibt es den Akt, Personen des öffentlichen Lebens zu boykottieren, schon länger. In den 1970er Jahren brachte die Frauenbefreiungsbewegung in Genf eine Liste von Gynäkologen in Umlauf, die boykottiert werden sollten, berichtet Sarah Kiani, Historikerin für soziale Bewegungen und Forscherin an der Universität Neuenburg und am Marc Bloch Center in Berlin.

Wenn wir an die Fälle Matzneff oder Duhamel denken, so brachten sie #MeToo in die Debatte ein

Beunruhigend sei der Angriff auf die Meinungsfreiheit, eine gewisse Zensur, die eine Debatte unmöglich macht. Das beklagt der Pressekarikaturist Patrick Chappatte. "Wenn Sie versuchen, jemanden zum Schweigen oder zu einer Entschuldigung zu bringen, geht es zu weit." Für Sarah Kiani hingegen haben einige Fälle die Debatte ausgelöst. "Wenn wir an die Fälle Matzneff oder Duhamel denken, haben sie #MeToo in die Debatte eingebracht", sagt sie.

"Cancel Culture" – was ist das?

Darf man noch sagen, was man denkt?

Was Gewählte an Beleidigungen und Drohungen erdulden müssen

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Mathilde Marendaz, Waadtländer Nationalrätin für das Ensemble à Gauche, erhielt vor den Wahlen einen beunruhigenden anonymen Brief. Er war an ihren Wohnsitz adressiert und enthielt eindeutig Morddrohungen. Solche Drohungen sind in den letzten Jahren landesweit immer wieder gegen Politiker ausgesprochen worden.

Der Inhalt ist aussergewöhnlich gewalttätig, und er lässt einen erschaudern. Im anonymen Brief, den Mathilde Marendaz an ihrer Privatadresse erhielt, wird ihr der Tod gewünscht. "Du wirst brennen wie Jeanne d'Arc", heisst es darin.

Der oder die Täter drohten ausserdem, ihr "eine 20 Zentimeter lange Klinge" in die Wirbelsäule zu rammen. "Nein, wir werden dich nicht töten, wir werden dich für immer zum Krüppel machen, du dreckige H***", heisst es weiter.

Der anonyme Brief wurde von der Politikerin des Ensemble à Gauche auf Instagram geteilt. Sie sagte, sie sei von den Drohungen zutiefst betroffen und kündigte an, dass sie Strafanzeige erstatten werde.

Mathilde Marendaz ist nicht die einzige gewählte Vertreterin, die bedroht worden ist. In der Schweiz gibt es auf allen politischen Ebenen zahlreiche Politiker, die von Beleidigungen und Bedrohungen berichtet haben.

Wie im Fall der Waadtländer Parlamentarierin können die Drohungen manchmal sehr heftig ausfallen. Sie werden in Form von Briefen, E-Mails oder Paketen ausgesprochen, aber auch in sozialen Netzwerken oder sogar direkt auf der Strasse. Es ist nicht mehr aussergewöhnlich, dass gewählte Amtsträger bei öffentlichen Auftritten unter Polizeischutz stehen.

Marco Morell

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Genaue Zahlen sind für Personen verfügbar, die unter dem Schutz der Bundespolizei stehen, d.h. für Bundesräte, Parlamentarier und Angestellte des Bundes. Letztes Jahr verzeichnete das Bundesamt für Polizei (Fedpol) 528 Drohungen, bei 68 davon wurde ein Strafverfahren eingeleitet. 

Das Gesamtphänomen ist jedoch nach wie vor schwer zu quantifizieren. Laut der Bundespolizei stellen diese Daten nur die Spitze des Eisbergs dar, da nicht alle Bedrohungen gemeldet werden.

Im Jahr 2021, auf dem Höhepunkt der Pandemie, explodierte die Zahl der gemeldeten Drohungen gegen Amtsträger des Bundes regelrecht, auf 1215. Seitdem hat sich das Klima etwas beruhigt, aber die Zahl der Meldungen bleibt hoch. Laut Fedpol "bleibt der Ton sehr gewalttätig und der Inhalt der Drohungen sehr beunruhigend".

Die Bundespolizei verweist insbesondere auf die sozialen Netzwerke, wo Debatten über polarisierende Themen hemmungslos und mit einem gewissen Gefühl der Straffreiheit geführt werden.

Vor allen Wahlkämpfe, wie zuletzt in diesem Herbst, sind für Politikerinnen und Politiker gleichbedeutend mit einer Phase intensiver Medienaufmerksamkeit. Neben Beleidigungen und Drohungen kommt es häufig vor, dass Plakate abgerissen oder verschmiert werden.

So wurden zum Beispiel im Kanton Freiburg Plakate der FDP mit der Aufschrift "Stimmt nicht für Nazis" verunstaltet. In Zürich wurde ein Wahlplakat von Andri Silberschmidt (FDP) verschmiert mit Symbolen, die den Nationalrat mit Adolf Hitler und dem Nationalsozialismus in Verbindung bringen sollten.

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<blockquote class="twitter-tweet" data-width="550" data-lang="fr"><p lang="de" dir="ltr">Heute am Bahnhof Oerlikon. Ist dies die Toleranz der Toleranten? <a href="https://t.co/GifaK3lrzv">pic.twitter.com/GifaK3lrzv</a></p>&mdash; Thomas Aeschi (@thomas_aeschi) <a href="https://twitter.com/thomas_aeschi/status/1699768597382394272?ref_src=twsrc%5Etfw">7 septembre 2023</a></blockquote>
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Und trotzdem sind Wahlkämpfe meistens nicht ganz so hitzig wie stark polarisierende Abstimmungen. Im Jahr 2021, im Abstimmungskampf zu den Pestizid-Initiativen, herrschte zum Beispiel ein sehr giftiges Klima mit zahlreichen Todesdrohungen, Beleidigungen und Plakaten, die verunstaltet oder angezündet wurden. Eine Grünen-Politikerin musste nach einer Fernsehdebatte sogar unter Polizeischutz gestellt werden.

Hass gegen Gewählte

Die letzte Legislaturperiode im Tessiner Parlament war auch von Aggression und Respektlosigkeit geprägt. Ein paar Überlegungen dazu von einigen Abgeordneten.

"Stell dich nicht so dumm!" "Mein Eindruck ist, dass ihr einen grossen Bedarf habt, die Sprache zu lernen..." "Aber wollen wir dieses Theater aufführen? Ich gehe, es tut mir leid." Das sind ein paar Zitate aus dem Saal des Tessiner Grossen Rates, während der letzten Sitzung der zu Ende gegangenen kantonalen Legislatur. Solche Zitate hinterlassen den Eindruck, dass es nicht die brillanteste Legislaturperiode war, weder in Bezug aufs Profil der Debatte noch in Bezug auf die Höflichkeit in den Gesprächen im Ratssaal: persönliche Angriffe, Aggressivität, schlechte Manieren lenken unweigerlich von der Sache ab, führen zum Verlust an Kontrolle und Diskussionskultur.

Zu diesem Thema haben wir die Gedanken von vier Parlamentariern gesammelt, die nicht mehr zur Wahl angetreten sind. Maristella Polli zum Beispiel verlässt den Grossen Rat nach 16 Jahren etwas verbittert: "Wenn man sich im institutionellen Rahmen an Staatsräte wendet, sollte man sie nicht mit 'Du, Vitta!' ansprechen. Man sollte sich nicht an seine Kollegen im Parlament wenden und sagen: 'Die politische Dummheit von euch Kollegen...'" Die FDP-Abgeordnete hebt andere Beispiele hervor, wo es an guten Manieren fehlte: Ins Parlament "kommt man nicht zum Plaudern, während ein Kollege gerade eine Rede hält". Oder: "Man geht nicht ständig rein und raus oder sogar an die Bar, zum zu trinken oder eine Zigarette zu rauchen...."

Claudio Franscella seinerseits nennt den fehlenden Respekt als Grund, wieso "wir sehr harte Debatten erlebt haben, die über das akzeptable Mass hinausgingen". Der Abgeordnete der Mitte, der in dieser Legislatur auch Ratspräsident war, sieht als weiteres Problem die politischen Zersplitterung und die stärkere Präsenz von Abgeordneten kleinerer politischer Kräfte. Für sie "wird die Parlamentssitzung zur einzigen Möglichkeit, sich mit ihrer Meinung Gehör zu verschaffen, auch bei den Medien, und mehr und mehr auf Konfrontation zu gehen". Das habe alles verändert, argumentiert er, "aber auch, weil sich die Art der Kommunikation verändert hat".

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SEIDISERA vom 16.03.2023: Tessiner Grosser Rat, "Kann nicht mehr debattieren" / CSR

Michele Foletti war auch schon mal Vorsitzender des Grossen Rates. Und am Ende seiner parlamentarischen Laufbahn stellt er fest, dass die Abgeordneten "mehr daran interessiert sind, Platz und Sichtbarkeit in den sozialen Medien zu haben als zu debattieren". Die Fähigkeit zum Debattieren habe abgenommen, findet der Abgeordnete der Lega, "weil man seine eigenen Parolen in den Saal ruft, ohne überhaupt zuzuhören, was jemand zu sagen hat, der nicht die gleiche Meinung hat".

Auch nach Ansicht von Daniela Pugno Ghirlanda, die nach sieben Jahren aus dem Grossen Rat ausscheidet, hat sich die Situation verschlimmert. Als Grund dafür sieht sie die "Haltung, wer sich schlecht benimmt, hat alles begriffen". So entsteht das Gefühl, "dass es keine Möglichkeit zur Verständigung gibt, weil das Terrain dafür nicht geeignet ist". Deshalb wünscht sich die SP-Vertreterin für die Zukunft: "Tue wenige Dinge, aber tue sie gründlich. Und dass man den Leuten zuhört, die in einem bestimmten Bereich über Fachwissen verfügen."

Wenn es Politikern an Respekt fehlt

Finden Sie heraus, wo Sie stehen

Wie diskutiert man über den Nahostkonflikt?

Wie kann die Gesellschaft den Nahostkonflikt konstruktiv diskutieren? SRF News hat mit zwei Expertinnen des Zürcher Instituts für interreligiösen Dialog darüber gesprochen. 

SRF News: Wie nehmen Sie die aktuelle Diskussion wahr?       

Hannan Salamat: Ich nehme wahr, dass es immer weniger Räume gibt, wo Grautöne erlaubt sind. Meine Beobachtung ist, dass Menschen denken, dass sie in einem Konflikt, der ja so viele Dimensionen und so viele Seiten hat, eine klare Seite beziehen müssen und eine Position haben müssen. Und was mich erschreckt, ist, dass immer weniger Platz da ist für Sowohl-als-auch, es wird ein Entweder-oder.               

Meinungsvielfalt bedeutet Meinungsverschiedenheit, und eine wesentliche Rolle spielt der Dialog. 

Die schrecklichen Ereignisse am 7. Oktober werden teilweise in ihrer Ursache komplett anders gedeutet. Wie beginnt man da eine Diskussion?                  

Dina Wyler: Mit Menschlichkeit. Man muss kein Nahostexperte sein. Das Verzwickte an der Sache ist, dass wir uns gegenseitig unsere Trauer absprechen wollen. Solange wir das tun, können wir gar nicht über den Konflikt sprechen. Wir müssen anerkennen, welch grosses Leid so viele Menschen aktuell erfahren. Und nur indem wir diese radikale Solidarität füreinander aufbringen, ist das Fundament für einen Dialog gelegt.   

Hannan Salamat, sie machen Schulbesuche und beraten Lehrpersonen, wie man über den Nahostkonflikt sprechen kann. Es geht um Vermittlung, wie macht man das konkret?       

Salamat: Konkret geht es um Streitkultur. In einer pluralen Gesellschaft herrscht keine Harmonie. Das heisst, wir haben verschiedene Meinungen, unsere Geschichten haben unterschiedliche Perspektiven. Meinungsvielfalt bedeutet Meinungsverschiedenheit, und eine wesentliche Rolle spielt der Dialog. Wie streiten wir auch als Gesellschaft konstruktiv miteinander? Wo wollen wir hin, wie wollen wir zusammenleben?

Wir denken, dass wir bei einer Diskussion die Argumentation gewinnen müssen.

Wyler: Und wenn ich da noch ergänzen kann, wir müssen lernen, Perspektiven zu wechseln, gerade in so einem unglaublich komplexen Konflikt wie demjenigen in Nahost. Und vor allem müssen wir auch anerkennen, dass mehrere Perspektiven ihre Berechtigung haben.        

Wieso fällt es vielen Menschen so schwer, mit Nuancen zu diskutieren?     

Wyler: Das ist die grosse Frage. Ich glaube, weil wir denken, dass wir eine Argumentation gewinnen müssen, weil es für viele Leute, gerade für die Betroffenen, um sehr viel geht. Wir hören einander nicht mehr zu, sondern sprechen in völligen Silos über zwei Narrative, die zum Teil vielleicht sogar beide wahr sein können. Wir müssen es schaffen, all diesen verschiedenen Stimmen Raum zu geben.        

Man kann ketzerisch sagen, es ist doch gar nicht so wichtig, wie wir in der Schweiz über den Nahostkonflikt diskutieren. Was antworten Sie darauf?                    

Wyler: Diese vermeintlich ketzerische Frage ist, glaube ich, auch deshalb trügerisch, weil es sehr wohl auch etwas mit uns hier in der Schweiz, in Europa zu tun hat. Wir lesen über antisemitische Vorfälle, welche überall auf der Welt zunehmen. Der antimuslimische Rassismus nimmt zu. Wir sind Teil dieser Bevölkerung, wo diese Dinge geschehen. Hannan und ich sind keine Nahostexpertinnen. Aber wir sind Teil der Schweizer Gesellschaft und wir haben eine Vision, wie diese Gesellschaft aussehen soll und wie wir bestenfalls miteinander umgehen sollen und können. Und da ist jeder in der Verantwortung.

Das Gespräch führte Sandro Della Torre.

Wie diskutiert man über den Nahostkrieg?

Der Antisemitismus von heute ist "furchterregender"

Seit dem Angriff der Hamas auf Israel ist ganz Europa in Alarmbereitschaft, aus Furcht vor einer Rückkehr des Antisemitismus. Wie begründet ist diese Angst? Und wieso ist der Antisemitismus so viele Jahre nach dem Holocaust immer noch so verbreitet?

Wir sprechen darüber mit Giacomo Jori, ausserordentlicher Professor für italienische Literatur an der Universität der italienischen Schweiz, stellvertretender Herausgeber der "Rivista di Storia e Letteratura Religiosa" und Co-Direktor von "Lettere Italiane". Jori koordiniert die wissenschaftlichen Aktivitäten des Zentrums "Judaica" der Stiftung Goren Monti Ferrari.

Herr Professor, lassen Sie uns ganz von vorne beginnen. Was ist Antisemitismus?

Ich habe mich vor Jahren mit einem italienischen Autor, Mario Lattes, beschäftigt, der zur Beschreibung des Antisemitismus einige Verse aus dem Buch Esther zitiert: "Und es gibt ein Volk, zerstreut unter den anderen Völkern, in allen Provinzen deines Reiches, dessen Gesetze anders sind als die aller anderen Völker; und sie halten sich nicht an die Gesetze des Königs, so dass es für den König nicht zweckmässig ist, sie leben zu lassen." In der Bibel gibt es also bereits ein Bewusstsein für die Verschiedenheit eines Volkes, das zum Objekt der Verfolgung wird.

Europa hat die Shoah auch dank seiner Erinnerung überstanden, dank der Dutzenden von Zeugen, die erzählten, was geschehen war, damit sich diese Dunkelheit nie wiederholen würde. Reicht diese Erinnerung nicht mehr aus?

Nein, das reicht nicht mehr aus und das tat es auch nie, wie uns das vergossene Blut der letzten Jahrzehnte zeigt; ausserdem müssen wir heute damit klar kommen, dass die Zahl der Zeugen von Generation zu Generation abnimmt. Das unvermeidliche Verschwinden von Zeugen erfordert neue Strategien, um die Menschen gegen rassistische Gewalt und Antisemitismus zu immunisieren. Schon heute ist es entscheidend, sich auf die kapitalen Texte der Zeugen zu beziehen. Ich denke da vor allem an "Se questo è un uomo" von Primo Levis.

Wie viel Einfluss hat Ihrer Meinung nach heute noch das sehr alte antijüdische Vorurteil, das dem Christentum eigen ist? Luther veröffentlichte 1543 die Schrift "Von den Juden und ihren Lügen". Mit der Gegenreformation führte die römische Kirche dann Ghettos und die Inquisition ein. Bald wurde das antijüdische Denken vom Religiösen aufs Politische übertragen, bis es zum Antisemitismus der Gegenwart aufblühte. Hat dies alles einen Einfluss auf die heutige Rückkehr des Antisemitismus?

Ich glaube nicht, dass es sich um ein blosses Erbe des Antisemitismus handelt, das in christlichen Kreisen gereift ist. Dies scheinen mir nicht die richtigen Koordinaten zu sein. Die Gewalt, die wir heute erleben müssen, hat andere Gründe.

Aber kann man heute von einer Rückkehr des Antisemitismus sprechen?

Ja. Man muss nur die Nachrichten verfolgen. Hakenkreuze an Synagogen, die Zerstörung von Grabsteinen und viele andere Formen von Gewalt sind antisemitische Gesten, die beängstigend sind, auch wenn kein Staat dahinter steht, wie zu Hitlers Zeiten. Der zerstreute Antisemitismus von heute ist gerade deshalb so furchterregend, weil er unberechenbar, unorganisiert, schwer zu bekämpfen und zu erkennenist. Ich widerhole es: Hinter dieser neuen Gewalt steckt keine erkennbare Ideologie, sondern eine allgemeine Fremdenfeindlichkeit, Hass und Frustration, die zu Gewalt führen. Ich würde sagen, es ist ein Antisemitismus, der aus dem Hass auf das Andersartige entsteht und zu Fremdenfeindlichkeit und Rassismus wird.

Zurück zu heute: Wie unterscheiden wir Proteste gegen die Handlungen einer Regierung, z. B. der von Netanjahu, von Antisemitismus?

Das muss gemacht werden, und zwar so, indem man Vernunft walten lässt und berücksichtigt, dass Israel nicht in jeder Hinsicht mit den Juden und ihrem historischen und kulturellen Erbe übereinstimmt. Seit 1948 ist Israel ein Staat auf der internationalen Bühne. Bei der Betrachtung des israelischen Handelns muss man also zunächst die Kategorien der Vernunft und der Politik anwenden und nicht die emotionalen und affektiven. Man sollte sich vor Augen halten, dass Israel als Wiedergutmachung für einen Völkermord entstanden ist, und diese Entstehungsgeschichte macht es zu einem einzigartigen Staat, über den wir noch sorgfältiger und aufmerksamer nachdenken müssen. Aber es bleibt ein Staat, dessen Verhalten in der Geschichte politisch ist.

Wenn der Antisemitismus wieder da ist, oder wenn er nie weg war, welche Gegenmittel gibt es?

Wie ich schon sagte, würde ich mich auf schriftliche Berichte und auch auf Filme konzentrieren, aber auf Klassiker und nicht auf Fiktion. Kunst und Denken werden an die Stelle des Zeugnisses treten müssen; sie werden unser 'Zeugnis' als europäische Menschen und Bürger sein.